Winterlingen
Zwei goldene Steine zur Mahnung
Von Beate Müller 13.07.2020 – 18:36 Uhr
Schwarzwälder Bote

Wer fortan die Ebinger Straße entlang läuft, hält vielleicht vor dem Haus Nummer 15, gegenüber dem Backhaus Mahl, kurz inne: Dort hat Gunther Demnig zwei goldene Stolpersteine verlegt: Einen für die Jüdin Selma Burkart, die von den Nazis 1942 ermordet wurde, einen für ihren Mann, den damaligen Ortsarzt Emil Burkart.

Eigentlich sollte die Stolpersteinverlegung für die Jüdin Selma Burkart und ihren Mann Emil Burkart eine große Feier werden mit Schülern und Gästen aus der Partnerstadt Izbica in Polen. Doch die aktuelle Coronaverordnung lässt einen solchen Festakt nicht zu, sodass man sich mit einer Stolpersteinverlegung im kleineren Rahmen mit Vertretern der Gemeinde und des Partnerschaftskomitees begnügen musste. Winterlingen war die zweite von drei Terminen im Süden, die Gunther Demnig am Montagnachmittag wahrnahm. Der Künstler hat seit 1996 mehr als 75 000 solcher Stolpersteine in ganz Deutschland verlegt und setzt die goldenen quadratischen Steine stets selbst in das Pflaster. Meist werden die kleinen Gedenktafeln mit den Lebensdaten der Bürger, die der Judenvernichtung zum Opfer fielen, vor deren ehemaligem Wohnhaus verlegt – als Mahnmal und Erinnerung an die Shoah, die zwischen 1941 und 1945 mehr als sechs Millionen Juden in Deutschland das Leben gekostet hat.

Selma Burkart, geborene Muschel, ist eine von ihnen. Sie war die einzige Jüdin, die damals im 2700-Seelen-Ort Winterlingen lebte, und die Frau des Ortsarztes Emil Burkart.

Heimathistoriker Heiner Schuler verlas beim kleinen Festakt vor deren ehemaligem Wohnhaus in der Ebinger Straße 15 die Lebensdaten der Burkarts, die er selbst in knapp 20-jähriger Arbeit erforscht hat. Dazu war er zu den Lebensstationen Selma Burkarts gereist und hatte viele Zeitzeugen befragt.

Selma Burkart wurde am 17. April 1885 in Löwen/Oberschlesien, einem kleinen Dorf unweit von Breslau, geboren. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie als Krankenschwester. 1914 heiratete sie Emil Burkart, der 1928 eine Arztstelle in Winterlingen annahm. Bis zur Machtübernahme der Nazis waren die Burkarts angesehene Leute im Ort.

Selma Burkart hatte die deutsche Staatsbürgerschaft, doch ihr jüdischer Glauben wurde ihr schließlich zum Verhängnis. Winterlingen war laut Heiner Schuler in den 1930er- und 40er-Jahren eine “Nazihochburg”.

Der Ortsgruppenleiter der NSDAP und seine Schergen übten massiven Druck auf Selma Burkart aus und drangsalierten sie, wo sie nur konnten. Auch die Einwohner stimmten in diese Schikanen mit ein; manch einer drohte ihr öffentlich mit Gewalt und sogar mit dem Tod. Deswegen floh Selma Burkart 1938 zu ihren Schwestern nach Breslau. Auch deshalb, um ihren Ehemann, dessen Praxis mittlerweile von den Winterlingern gemieden wurde, vor weiteren Anfeindungen und finanziellen Einbußen zu schützen.

Zwischendurch hatte sich das Ehepaar Briefe geschrieben, die Schuler verlas. Gelegentlich hätten sie sich auch getroffen, allerdings aus Angst immer außerhalb Winterlingens.

Am 12. oder 13. April 1942 wurde Selma Burkart schließlich vom Breslauer Bahnhof Obertor “nach dem Osten” deportiert. Endstation war Izbica im Südosten Polens, einem damaligen Umschlagbahnhof. Von dort stammt auch das letzte Lebenszeichen Selma Burkarts: eine Postkarte, auf der sie sich von ihrem Ehemann “Mile” verabschiedet, mit dem Poststempel des 25. April 1942.

Dann verliert sich ihre Spur. Schuler geht davon aus, dass sie entweder im Durchgangslager Izbica oder im Vernichtungslager Belzec getötet wurde. Das Amtsgericht Balingen erklärte sie am 7. November 1948 für tot. Ihr Mann Emil Burkart starb in den späten 1950er-Jahren.

Selma Burkarts Lebensgeschichte wurde auf einer Tafel zusammengefasst – in deutscher und in polnischer Sprache. Diese wird ergänzend zu den beiden Stolpersteinen vor dem ehemaligen Wohnhaus der Burkarts angebracht.

Während Schuler die Lebensstationen der Winterlingerin nachzeichnete, pflasterte Gunther Demnig andächtig ein Mahnmal für das Ehepaar und stellvertretend für alle während der Nazizeit ermordeten Juden in den Gehweg an der Ortsdurchfahrt. Die Männer des Bauhofs hatten die kleine Baustelle vorbereitet, um die sich einige Gäste –ausgestattet mit Mund-Nase-Maske – zu Ehren der Jüdin versammelt hatten.

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